Das folgende Fallbeispiel schildert exemplarisch, auf welche Weise systemische Therapie helfen kann, den Weg aus einer problematischen Situation heraus zu finden.
Fallbeispiel: Systemische Therapie bei Depressionen
Axel ist 52 Jahre alt und beruflich erfolgreicher KeyAccountManager in einem bekanntem Unternehmen tätig. Auch privat läuft im Grunde alles gut. Axel ist seit 22 Jahren glücklich verheiratet, er und seine Frau haben einen 17 jährigen Sohn und einen stabilen und unterstützenden Freundeskreis. Axel ist ein offener, kontaktfreudiger Mensch und in seiner Freizeit vielseitig aktiv.
Doch seit einigen Monaten geht es ihm stetig schlechter. Seine Stimmung ist gedrückt und er ist sehr nachdenklich geworden. Häufig kann er sich zu nichts mehr aufraffen, Dinge zu tun, die ihm früher Freude bereitet haben und fühlt sich schnell erschöpft und müde. Er hat Probleme einzuschlafen und liegt nachts oft lange wach und grübelt. Nach einiger Zeit wendet sich Axel an seinen Hausarzt und lässt sich untersuchen. Axel ist körperlich völlig gesund und der Hausarzt äußert den Verdacht, dass Axel an einer Depression erkrankt ist. Er rät ihm, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen.
Ein Bekannter empfiehlt ihm die Adresse einer systemischen Therapeutin. „Systemisch“, darunter kann sich Axel zuerst kaum etwas vorstellen. Von „Familientherapie“ hat er schon mal was gehört, aber er dachte, das sei immer Therapie mit der Familie gemeinsam. Er ist überrascht, dass die systemischen Ansätze auch in einer Einzeltherapie angewandt werden können.
Bei der ersten Sitzung mit seiner Therapeutin fragt diese: „Was führt Sie zu mir? Was ist ihr Anliegen?“ Axel weiß noch nicht, dass dies immer die Eingangsfrage der Sitzungen sein wird und ist im ersten Moment irritiert. Woher soll er das denn wissen – die Therapeutin ist doch die Expertin, oder? Nach einigem Überlegen beschreibt er der Therapeutin seine Symptome und dass er diese gerne loswerden möchte. Er will herausfinden, wie sich die Depression bei ihm entwickeln konnte und was er dagegen tun kann. Die Therapeutin greift dies auf, um die Ziele für die Therapie gemeinsam mit Axel zu formulieren. Sie möchte ihn und sein Anliegen genau verstehen, um ihm richtig helfen zu können.
Axel ist in dieser und auch in den kommenden Sitzungen überrascht, dass seine depressiven Symptome nicht als Störung oder Krankheit gelten, sondern dass die Therapeutin die Symptome in einem größeren Zusammenhang betrachtet. Sie nimmt Axel gegenüber eine grundsätzlich wertschätzende Haltung ein, auch in Bezug auf seine depressiven Symptome. Sie hilft ihm dadurch, nicht mehr ausschließlich in Kategorien wie gesund und krank zu denken, sondern die depressiven Symptome im Kontext ihrer Rahmenbedingungen zu sehen, in denen sie aufgetreten sind.
Hier erkennt Axel nach einigen Sitzungen, dass er sich im Moment in einer beruflichen Entscheidungssituation befindet. In seiner aktuellen Firma hat er seine Karrieremöglichkeiten ausgeschöpft, es warten kaum noch Herausforderungen auf ihn. Dies hat bei ihm zu einer richtigen Lebenskrise geführt. Auch sein Sohn kommt langsam in ein Alter, in dem er immer selbständiger wird und sich schrittweise vom Elternhaus löst. Axel fühlt ich nicht mehr gebraucht und ist verunsichert, wie er die nächsten Jahre gestalten möchte.
Von der systemischen Blickweise aus gesehen erfüllen die depressiven Verhaltensmuster oft eine wichtige Funktion in dem betroffenen System. Axel versteht, dass die depressiven Symptome auch bei ihm eine bestimmte Funktionalität haben und fühlt sich dadurch sehr erleichtert. Bei Axel war die depressive Erkrankung die einzige Möglichkeit für ihn innezuhalten, sein Leben wieder bewusst in die eigene Hand zu nehmen und anzuerkennen, dass sich etwas ändern muss.
Zu diesen Erkenntnissen gelangt er durch systemische Fragetechniken der Therapeutin wie z.B.:
- „Was würde Ihre Frau oder Ihr Sohn sagen, wie die nächsten 10 Jahre Ihres Lebens aussehen?“
- „Wenn Sie sagen, Sie möchten wieder ohne depressive Symptome leben – wie fühlt sich das an, ohne depressive Symptome zu sein?
- Was müssten Sie tun, um sich wieder so zu fühlen? Woran würden Sie merken, dass die depressiven Symptome weg sind?“
Durch andere Fragen aktiviert die Therapeutin die Ressourcen von Axel:
- „Wie sind Sie mit anderen Herausforderungen umgegangen? Was hat Ihnen in diesen Phasen geholfen?“
- „Worauf sind Sie stolz?“
Neben den systemischen Fragetechniken nutzt die Therapeutin auch die Methode der paradoxen Intervention, indem sie Axel z.B. in Bezug auf seine Schlafstörungen bittet, ganz bewusst länger wach zu bleiben und auf keinen Fall einzuschlafen. Auch eine Abschlussintervention schließt sich an jede Stunde an, in welchem die Therapeutin das in der Sitzung Geschehene zusammenfasst, wertschätzt und entweder kommentiert oder eine Aufgabe bis zur nächsten Sitzung mitgibt.
Axel ist beeindruckt, in welcher kurzen Zeit sich eine Veränderung zeigt. Schon nach sechs Sitzungen sind die meisten seiner Symptome deutlich zurückgegangen. Nach seinem Empfinden hat ihm die Therapeutin in vielen Punkten „die Augen geöffnet“ und neue Perspektiven aufgezeigt. Er überlegt nun, welche Alternativen ihm zur Verfügung stehen und beginnt, sich selbst und seine aktuelle Lebenssituation ganz anders zu hinterfragen. Auch richtet er den Blick nun auf die Möglichkeiten und Chancen seiner Situation, nicht mehr nur auf die Probleme und die negativen Auswirkungen. Seine Blickweise hat sich verändert und er kann eigene Handlungs- und Gestaltungsoptionen in Bezug auf sein Leben und die eigene Lebensplanung wieder wahrnehmen und nutzen.